Indem es finstrer wurde, und der Bach lauter rauschte, und das Geflügel der Nacht seine irre Wanderung mit umschweifendem Fluge begann,
saß er noch immer mißvergnügt und in sich versunken; er hätte weinen mögen, und er war durchaus unentschlossen, was er tun und vornehmen
solle. Gedankenlos zog er eine hervorragende Wurzel aus der Erde, und plötzlich hörte er erschreckend ein dumpfes Winseln im Boden, das sich
unterirdisch in klagenden Tönen fortzog, und erst in der Ferne wehmütig verscholl. Der Ton durchdrang sein innerstes Herz, er ergriff ihn, als wenn er
unvermutet die Wunde berührt habe, an der der sterbende Leichnam der Natur in Schmerzen verscheiden wolle. Er sprang auf und wollte entfliehen, denn er
hatte wohl ehemals von der seltsamen Alrunenwurzel gehört, die beim Ausreißen so herzdurchschneidende Klagetöne von sich gebe, daß der
Mensch von ihrem Gewinsel wahnsinnig werden müsse. Indem er fortgehen wollte, stand ein fremder Mann hinter ihm, welcher ihn freundlich ansah und fragte, wohin er wolle.
[...]
»Nein«, sagte der Sohn, »ich erinnere mich ganz deutlich, daß mir eine Pflanze zuerst das Unglück der ganzen Erde bekannt gemacht hat, seitdem
verstehe ich erst die Seufzer und Klagen, die allenthalben in der ganzen Natur vernehmbar sind, wenn man nur darauf hören will; in den Pflanzen, Kräutern,
Blumen und Bäumen regt und bewegt sich schmerzhaft nur eine große Wunde, sie sind der Leichnam vormaliger herrlicher Steinwelten, sie bieten
unserm Auge die schrecklichste Verwesung dar. Jetzt verstehe ich es wohl, daß es dies war, was mir jene Wurzel mit ihrem tiefgeholten Ächzen sagen
wollte, sie vergaß sich in ihrem Schmerze und verriet mir alles. Darum sind alle grünen Gewächse so erzürnt auf mich, und stehn mir nach dem Leben;
sie wollen jene geliebte Figur in meinem Herzen auslöschen, und in jedem Frühling mit ihrer verzerrten Leichenmiene meine Seele gewinnen. Unerlaubt
und tückisch ist es, wie sie dich, alter Mann, hintergangen haben, denn von deiner Seele haben sie gänzlich Besitz genommen. Frage nur die Steine, du wirst erstaunen, wenn du sie reden hörst.«
(Ludwig Tieck, Der Runenberg)
So verging ihr eine Woche nach der andern, bis sie in einer Nacht ganz ermüdet auf eine ausführliche Nachricht traf, wie Alraunen zu bekommen, und
wie diese dienstbar Geld und was ein weltliches Herz sonst begehre, mit stehlender, untrüglicher Listigkeit zuführten. Aber welche Schwierigkeit, sie
zu gewinnen, und doch war es die leichteste von allen Zaubereien; die Zauberei braucht die härteste Schule; wer sie aushalten kann, möchte auch
wohl in den gewöhnlichsten Geschäften ohne alles Geheimnis zu zaubern scheinen. Wer kennt jetzt nicht die Bedingungen, einen Alraun zu gewinnen,
und wer möchte sich ihnen noch unterziehen, wer könnte sie erfüllen? Es wird ein Mädchen gefordert, das mit ganzer Seele liebt, ohne Begierde zur Lust
ihres Geschlechtes, der die Nähe des Geliebten ganz genügt: eine erste, unerläßliche Bedingung, die vielleicht in Bella zum erstenmal wahrgeworden
war, weil sie von den Zigeunern, die sie bisher kennen gelernt, immer als ein Wesen höherer Art behandelt worden und sich dafür anerkannt hatte; die
Erscheinung des Prinzen war ihr aber so heilig rein, wie der Körper des Allerheiligsten in der Messe, vorübergegangen, zu schnell, um ihre
Betrachtung zu wecken. In solchem Mädchen, das so mächtig von der Phantasie in allen Segeln angehaucht wird, soll gleichzeitig der übermännliche Mut wohnen, nachts in der eilften Stunde mit einem
schwarzen Hunde unter den Galgen zu gehen, wo ein unschuldig Gehenkter seine Tränen aufs Gras hat fallen lassen; da soll sie ihre Ohren mit
Baumwolle wohl verstopfen und mit den Händen suchen, bis sie die Wurzel erreicht, und trotz allem Geschrei dieser Wurzel, die keineswegs natürlicher
Art, sondern ein Kind der unschuldigen Tränen des Erhenkten ist, ihr das Haupt entblößen, einen Strick aus ihren eignen Haaren umlegen, den
schwarzen Hund daran spannen, dann fortlaufen, so daß der Hund, im Wunsche ihr zu folgen, die Wurzel aus der Erde zieht, wobei er von einer
erblitzenden Erschütterung des Bodens unfehlbar erschlagen wird. Wer in diesem Augenblicke, dem entscheidendsten, seine Ohren nicht wohl verstopft
hat, kann von dem Geschrei auf der Stelle unsinnig werden. Bella war wiederum die einzige seit Jahrtausenden, bei der sich alle diese Erfordernisse
vereinigten; wer war unschuldiger, als das teure Haupt ihres Vaters Michael, der in rastloser Tat für sein armes Volk, in steter Mühe und Not für die
Seinen, um das Unbedeutendste einem Reichen zu entfremden, allzu ehrlich und stolz gewesen war.
(Achim von Arnim, Isabella von Ägypten)
|
Alraun
Mandragora officinarum, Nachtschattengewächse
(ahd. von Edel und Zauber [got. runa, „Geheimnis”, ahd. rûnen, „leise sprechen”, „raunen”, nord. run, „Geheimnis”, „Rune”]; auch Alräunchen, Alruncken, Alruneken, Galgenmännlein,
Wurzelmännchen, Mandragora) Der Alraun ist die einem Menschen oft verblüffend ähnlich sehende Wurzel der Mandragorapflanze. Wie alle Nachtschattengewächse enthält Mandragora Alkaloide, die zu
Halluzinationen und sonstigen Vergiftungen bis hin zum Tod führen können.
Als Glücksbringer wurden die Alraunen teuer gehandelt, denn sie bringen ihrem Besitzer Geld, günstigen Richterspruch
vor Gericht und Erfolg in der Liebe, auch eignet sie sich als Zutat für die Hexensalbe. Dies bewirken die Galgenmännlein, die besonders unter Galgen aus Blut oder Sperma der Gehängten hervorgehen und
die als Alraunwurzeln erhältlich sind.
Die Ähnlichkeit der Wurzel mit dem Menschen war auch Hildegard von Bingen aufgefallen. Sie empfahl, den der Wurzel innewohnenden teuflischen Einfluß
durch Waschung in Quellwasser auszuspülen. Hildegard verschrieb die Alraune gegen übersteigerten Sexualtrieb. Dafür lege man sich eine Wurzel zwischen Brust und Nabel, einen Teil belasse man am
Körper, den anderen zerreibe man und nehme ihn mit etwas Kampher ein.
Andere Anwendungen sind die Rinde der Alraun gegen Augenleiden oder zur Geburtshilfe, besonders bei abgestorbener
Leibesfrucht (Grimm 1992, Bd. III, S. 353).
Um die Alraunwurzel zu erhalten, am besten in der Johannesnacht zum 24. Juni, empfiehlt sich der Beistand eines schwarzen Hundes. Weil die Alraun
einen Schrei ausstößt, wenn sie aus der Erde gezogen wird und jeder, der den Schrei hört, dem Wahnsinn anheimfällt, sollte diese gefährliche Arbeit besser dem Hunde überlassen bleiben. Den binde man
an die halb ausgegrabene Wurzel und entferne sich rasch. Wenn man dann das treue Tier ruft, kommt es angesprungen und reißt dabei die Wurzel aus dem Boden, stirbt aber augenblicklich am Schrei der
Alruncken. Sich selbst schütze man durch Verstopfung der Ohren.
Bereits der antike Geschichtsschreiber Flavius Josephus beschrieb in seinen „Bellum Judaicum” das Sammeln der Pflanzen. Nach
seiner Darstellung empfiehlt es sich, sie mit Urin und Blutfluß zu gießen. Dann ließe sich die Wurzel ausziehen und muß dann im ganzen in der Hand davongetragen werden. Ansonsten weist auch er auf
die Methode mit dem Hund hin, ein gutes Sammelgebiet sei das Tal Baara bei Machäus. Die so gewonnene Wurzel eigne sich besonders zur Heilung von Krankheiten, da diese von Dämonen hervorgerufen
würden, die die Annäherung der Pflanze aus dem Kranken austreibe (Bellum Judaicum VII,6, nach Habiger-Tuczay 1992, S. 217).
Das derart gewonnene Wurzelmännlein wird in ein weißes Kleid
gewandet und zweimal täglich mit Essen und Trinken versorgt. Nun läßt es sich um Rat befragen (Grimm 1992, Bd. III, S. 353).
Auch zur Bereitung von Liebestränken wurde die Alraunwurzel
verwendet. (R. BURTON in Anatomy of Melancholy, zit. n. Biedermann 1998, S. 268)
Aus der Mandragora-Wurzel sollen außer den Galgenmännlein verschiedene elbische Wesen entstehen, beispielsweise
die Skzrate.
Ein anderer Name der Alraun ist Kirkeia, nach der griechischen Zauberin Kirke, die sich mit ihrer Magie Männer willfährig machte und dafür die Mandragora verwendet haben soll
(Habiger-Tuczay 1992, S. 216).
Die Früchte der Alraune sind womöglich die Liebesäpfel des Alten Testaments (1. Mose 30,14ff).
Eine Pflanze, deren Wurzel wie der Alraun dem Menschen ähnelt
ist der asiatische Ginseng.
(Quelle;
der Text auf dieser Webseite entstammt meiner Vermutung nach aus: Bächthold-Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens))
|